Himmelspaläste der Astrophysik

 

 

Hans J.Pirner

 

Institut für Theoretische Physik, Universität Heidelberg

 

 

 

Anselm Kiefer wurde kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Süddeutschland geboren und feiert dieses Jahr seinen 60. Geburtstag. Seit 1995 arbeitet er an dem Zyklus „Kosmos und Sternenbilder“, in welchem – so der Katalog seiner letzten Ausstellung in der Kunsthalle Würth – neueste physikalische Daten mit uralter mythologischer und astronomischer Überlieferung verschmelzen. Er ist einer der wenigen Künstler, die sich mit Astrophysik beschäftigen. Dies macht ihn für einen Physiker interessant, der den Gedankenaustausch mit Nichtwissenschaftlern sucht.

A. Kiefer stellt in den  Bildern Himmelspaläste 1, 2, 3 die Galaxien Hydra, Bootes und Andromeda dar. Hydra ist in der griechischen Sage eine riesige Wasserschlange mit mehreren Köpfen, der für jeden abgeschlagenen Kopf zwei neue nachwachsen, bis Herakles sie ausbrennt. Das Sternbild „Hydra“ ist ein Galaxiensystem auf großer Skala, ungefähr 1,1 Milliarden Lichtjahre von uns entfernt. Aus der Veränderung des von angeregten Atomen ausgesendeten Lichts, kann man folgern, das sich Hydra mit 60.900 km/s » 1/5 der Lichtgeschwindigkeit von uns wegbewegt. Die Spektrallinien sind nach längeren Wellenlängen verschoben, genauso wie die Sirene des Streifenwagens dunkler klingt, wenn er uns passiert hat.  Bootes, ein Superhaufen, ist „nur“ 700 Millionen Lichtjahre entfernt. Er bewegt sich mit der Hälfte der Geschwindigkeit von Hydra. Der Andromeda Nebel liegt  in unserer nächsten Nähe, nur zwei Millionen Lichtjahre entfernt. Sein spektrales Licht ist zu kürzeren Wellenlängen hin verschoben, das heißt er nähert sich uns an im Gegensatz zu den anderen beiden Galaxien, die eine starke Rotverschiebung haben. Ähnlich unserer Milchstraße hat Andromeda einen Durchmesser von 100.000 Lichtjahren.

Die Bilder „Himmelspaläste“ (1,2,3) sind groß, 560x500 cm oder 560x380 cm, doch die in den Bildern dargestellten Dimensionen sind riesig; ein Lichtjahr in Zentimetern ausgedrückt wäre eine Zahl mit 18 Nullen. Die Bilder sind zweigeteilt. Der eigentliche Himmel überwölbt Relikte astronomischer Instrumente, wie sie die Babylonier benutzt haben mögen. Himmelsleitern über parabolisch geformten Halbkreisen dienen zur Messung der astronomischen Koordinaten. Die Himmelsobjekte, die Sterne setzen sich teilweise im Bereich fort, in dem die Beobachtungsinstrumente dargestellt sind; der wirkliche Himmel, der aus einem violetten Grau mit unzähligen Stern- und Galaxienhaufen besteht, reißt über der „menschlichen“ Sphäre der beobachtenden Instrumente ab.  Beide Teile gehören zusammen und bilden trotz ihrer Trennung eine Einheit. Ein Astronom ist auf den Bildern nicht dargestellt. Auch sind keine moderne Observatorien oder Messinstrumente auf den Bildern Himmelspalästen (1,2,3) zu sehen.  Linien verbinden die leuchtkräftigeren, helleren Objekte in der Himmelsphäre mit den Objekten in der Beobachtungshälfte. Die Linien auf den Bildern  erinnern an Straßen auf Karten. Einzelne Objekte erscheinen wie Tupfer; Cluster bilden weiße Anhäufungen. Öl, Emulsion, Acryl, Lack, Gips und Stroh sind das Material auf den Leinwänden der Bilder. Das auf den Bildern gemalte Universum ist körnig; die vielen mit Akribie gezeichneten Etiketten auf den Sternhaufen tragen Namen z.B.  Alamak, Beta Tri, Mirach, Sirrah im Andromeda Bild.

Die großflächigen Cluster Bootes, Hydra und Andromeda haben selbst insgesamt Milliarden Galaxien, wobei jede Galaxie wieder 1011 Sterne enthält. Der Astrophysiker möchte gerne wissen, wie diese Galaxien entstanden sind. Nach heutigem Verständnis sind mikroskopisch kleine Schwankungen der Materiedichte von 0.001% die Saatkörner der Galaxien. Vor der inflationären Ausdehnung des jungen Universums, gleich nach dem „Big Bang“ treten Quantenfluktuationen auf einer mikroskopischen Skala auf, die viel kleiner ist als die Bestandteile der Atomkerne. Die Physiker begeistert die Idee, den Ursprung unseres materiellen Universums bis zu ganz frühen Zeiten zurückverfolgen zu können Diese Schwankungen in der Dichte führen zu Temperaturfluktuationen. 300.000 Jahre nach dem Big Bang ist das Universum genügend abgekühlt, um für Strahlung durchlässig zu werden, d.h. wir können heute in der kosmischen Hintergrundstrahlung diese Temperaturschwankungen mit Satelliten beobachten. „Heute“ heißt ungefähr 9 Milliarden Jahre nach dem Big Bang. Als Modell für die eigentliche Galaxienentstehung dient eine gewöhnliche Gaswolke, welche sich unter dem Einfluss der Schwerkraft zusammenzieht. Ihre Gravitationsenergie verwandelt sich in Bewegungsenergie, d.h. Wärme; der resultierende Druck bremst den gravitativen Zusammensturz, wenn ein kritischer Radius erreicht ist, bei dem die Gravitationsenergie der kinetischen Energie gleich ist.

A. Kiefers Gedanken gehen in eine etwas andere Richtung. Das Bild „Merkaba (2001)“  ähnelt den Himmelspalästen. Auf seiner Oberfläche befinden sich kleine Flugzeugmodelle aus Blei, welche teilweise die Linien zwischen den Sternen abfliegen, teilweise auf einer aus dem Bild herausragenden Landebahn parken. Merkaba, Gottes Wort, ist ein Begriff aus der jüdischen Geheimlehre Kabbala, die auf 200 v.Ch. zurückgeht und im 12.Jahrhundert erweitert wurde. Nach Maimonides sollen die Geheimnisse des Gesetzes, insbesondere die Merkaba nicht allgemein verbreitet werden. Sie könnten sich sonst durch die Überlieferung verdünnen. Merkaba ist das Mittel, mit dem das Bewusstsein zu höheren Dimensionen vordringt. Die Lehre kann nur in der Dunkelheit, an einem verlassenen Platz unterrichtet werden von Angesicht zu Angesicht und vom Mund ins Ohr. Die Flugzeuge auf dem Bild sind Kampfjets, die Landebahn wird von einem zentralen Gebäude  beherrscht, welches mit Linien und Schirmen mit dem Universum verbunden ist. Die technomilitärische Maschinerie besetzt das Universum, dessen Wissen zum Geheimwissen geworden ist.

Strahlung entflieht der Akkumulation der Materie und erniedrigt dadurch die Schwankungen in der Energiedichte; sie erschwert die Galaxienbildung. Die Physiker glauben, dass es dunkle Materie geben muss, die kein Licht aussendet, die selbst bei hohen Temperaturen nicht glüht und deshalb mit optischen oder auf andere Wellenlängen sensitiven Instrumenten nicht sichtbar wird. Diese dunkle Materie kann schon vor dem Entkoppeln der Strahlung von der Materie die Dichteunterschiede im frühen Universum verstärken. Als Materie ist sie der Schwerkraft ausgesetzt und erleichtert den Gravitationskollaps der Dichtefluktuationen. Wie groß die Materiekörner im Universum sind, hängt von den Eigenschaften der unsichtbaren dunklen Materie ab.

Auf Kiefers fleckigen Himmelsbildern gibt es Körner und Gipsklumpen. Die Lichter und Sterne heben sich vom dunklen Nichts zwischen den Agglomerationen ab, wie nachts die Riesenstädte Los Angeles und San Francisco von ihrem Umland . Merkaba enthält Zahlen (1, 3), griechische Buchstaben aus der mathematischen Physik  y, p, das Verhältnis von Kreisfläche zu Kreisradius im Quadrat, viele einzelne e, d, i, V, x und andere enigmatische Buchstabenkombinationen, wie kTAlpha. Mehrere arabisch klingende Namen sind auf dem Bild Merkaba zu finden. „Formalhaut“ im Sternbild Fische geht auf das altarabische Fumalhut zurück. Im Zentrum des Bildes Hercules (2002) leuchtet ein weißes eingegipstes Reisigbündel. Statt gerader Linien verbinden Gipszweige die Sterne. Auf den anderen Bildern, Himmelspaläste 1, 2, 3 und Merkaba stellen Geraden die Verbindung zwischen den Sternen her. Im Mittelpunkt des Bildes Herkules dominiert dieses Bündel weiß eingegipster Äste. Welche Assoziationen haben den Schöpfer dieses Bildes von den kosmischen Galaxien zu den Geästen geführt? Der Grund ist vielleicht zu erahnen, wenn man das Objekt „The Secret Life of Plants“ (nicht „Planets“ !) hinzunimmt; weiße Ölflecken auf Bleibögen geben gefächerte Buchseiten (Kleines Buchobjekt) wieder, auf denen Galaxien neben Galaxien aufgespritzt und benannt sind. Anselm Kiefers Studium von Robert Fludd (1574-1637) macht die Verbindung von Kosmos und Bios besser verständlich. Der Mystiker Fludd hat eine neoplatonische Weltsicht vertreten, in der sich die natürliche Welt in der übernatürlichen Welt widerspiegelt. Jeder Blume entspricht ein Stern am Firmament.  Das Wissen um die Pflanzen wurde von dem Botaniker P. Commerson (1767) auf der Expedition Bougainvilles katalogisiert, von La Perouse (1785) in Transportkisten voller Pflanzen in die naturwissenschaftlichen Museen gebracht und  in den Wörterbüchern der Botanik gesammelt. Diese Forschung bildete die Grundlage für die Evolutionslehre Darwins (1831). Will A. Kiefer uns sagen, dass das geheime Leben der Pflanzen in der kosmologischen Evolution vorprogrammiert ist? Können wir Informationen über den Ursprung des Lebens im Kosmos finden? Die Physiker haben versucht, diese Fragen mit Satelliten zu erforschen. Das neueste Projekt der ESA (European Space Agency) zu diesem Thema trägt den Namen „Darwin“ und soll im Jahre 2010 ins All geschickt werden, um frühe Formen des Lebens mit Hilfe ihrer Molekülspektren zu identifizieren. Sind die weißen Flecken auf Kiefers Bleiplatten genauso zufällig verteilt, wie die Entstehung des Lebens zufällig bestimmt ist? Beruht Leben auf der Selbstkatalyse von Molekülen, welche direkt oder indirekt aus sich selbst heraus komplexere Moleküle bilden. Das Material Blei im Kiefers „Kleinem Buchobjekt“ verbindet die naturwissenschaftliche Datierung und Objektivierung mit der geisteswissenschaftlichen Bleibibliothek „Zweistromland – The High Priestess“, die sich seit 1989 zu 200 Büchern in einem Stahlregal ausgedehnt hat. Vorderasien, das große Mischbecken der Sumerer, Semiten und Assyrer hat nicht nur die Mathematik und Astronomie, sondern auch heilige Bücher, Bauwerke und Skulpturen hervorgebracht.

Kiefers Bibliotheken aus Blei beherbergen Bücher mit Seiten, die so schwer sind, dass wir sie nicht umblättern können. Unser archiviertes Wissen ist bleischwer geworden. Dies mag eine Warnung des  Künstlers Kiefer an uns Wissenschaftler sein. Die Unzugänglichkeit unseres Wissens zeigt sich in der Akribie, mit der er Entdeckung um Entdeckung von den Sternkarten auf die Leinwand transkribiert, wobei er die echten Namen der NASA (North American Space Agency) für die Sterne verwendet, wie z.B. 015424+6341337SSB3,CAS  für einen Stern im Sternbild Cassiopeia. Seine Malerei erscheint wie die Übersetzungen eines Gelehrten der Renaissance, der Platos Schriften entdeckt und sie zum Kanon des Wissens erklärt. Aber mehr noch, Kiefer betrachtet die neuesten Ergebnisse der Astrophysik mit den Augen eines Historikers am Ende des dritten Jahrtausends. Einstein sagte 1936 in seinem Artikel „Physik und Realität“  über das Universum als Lösung seiner Gleichung der allgemeinen Relativitätstheorie. Sie gleicht einem „Gebäude, dessen einer Flügel aus vorzüglichem Marmor ( linke Seite der Gleichung), dessen anderer Flügel aus minderwertigem Holz gebaut ist (rechte Seite der Gleichung). Die phänomenologische Darstellung der Materie (auf der rechten Seite) ist nämlich nur ein roher Ersatz für eine Darstellung, welche allen bekannten Eigenschaften der Materie gerecht würde“. Wir sind jetzt an einem kritischen Zeitpunkt angelangt, an dem unser Wissen um diese rechte Seite der Gleichung in Frage gestellt wird durch die Hypothesen von dunkler Materie und Energie. 97 Prozent der Strahlung/Materie, welche auf der rechten Seite der Gleichung erscheinen sind uns unbekannt, sie erscheinen uns dunkel. Die klassische Kosmologie in Kiefers Bildern wäre eine Wissenschaft, deren Entdeckungszeit schon vorbei ist, ein Teil der menschlichen Geistesgeschichte. Kiefer betätigt sich als Archäologe des Wissens, er fördert zu Tage, was vergangen ist. Der Entdecker der Expansion des Universums, Hubble, beschreibt die Forschung in der Astrophysik in seiner letzten Veröffentlichung so: „From our home on earth we look out into the distances ... with increasing distances our knowledge fades … until at the last dim horizon we search among ghostly errors of observation for landmarks that are scarcely more substantial.”

Wenige  versuchen die moderne Mathematik, Physik und Astronomie in die Sphäre der allgemeinen Kultur einzuschließen. Die meisten Gebildeten glauben, dass sie auch gut ohne die neue Kosmologie auskommen können. Ihnen entgeht, dass Wissen ein Ganzes ist, dass die Natur und die Welt des Geistes verbunden sind. Die Zusammenhänge mögen von anderer Art sein, als die Neoplatoniker sie konstruiert haben. Anselm Kiefer stellt dar, was zusammen gehört. Aus den Ruinen der Beobachtungsleitern, Türmen und Observatorien sind Himmelspaläste der Astrophysik herausgewachsen. Sie sind filigrane Gebäude, vergleichbar mit erstarrten, aber noch  lebendigen Gipspflanzen. Sie sind offene Seiten eines kleinen Buchs, welche im Gegensatz zur Bleibibliothek Zweistromland offen stehen  für weiteres Lesen, Studium und Revision.