Perspectives of physics at MPI-HD

Perspektiven der Physik am Max Planck Institut

Zentrale Forschungsthemen im Heidelberger Max-Planck-Institut für Kernphysik am Bierhelder Hof

(Alle Rechte beim MPI-HD)

[Siehe Web-Seiten des Max Planck Institutes für Details zu den beschriebenen Forschungsthemen.

Siehe auch Web-Seiten zum Tag der offenen Tür 2000 für Details zu den Forschungsthemen des MPI-HD.]

Von den vier Heidelberger Max-Planck-Instituten für medizinische Forschung, Astronomie, ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, sowie Kernphysik (dazu kommt das MPI für Zellbiologie in Ladenburg) konzentriert sich das am Bierhelder Hof gelegene Institut auf die physikalische Grundlagenforschung. Der noch auf die Kernphysik verweisende Name des 1958 gegründeten Instituts hat allein historische Gründe. Aus den dort bearbeiteten zahlreichen hochaktuellen experimentellen und theoretischen Forschungsproblemen von elementaren Teilchen bis zu astrophysikalischen Prozessen im Universum, von einfachen hin zu komplexen Systemen sollen hier vier zentrale Themen herausgegriffen werden.

Die Gebiete Teilchenastrophysik, Neutrinophysik, Experimente am Speicherring und Atmosphärenphysik haben nicht nur für die zukünftige Weiterentwicklung dieses Institutes eine besondere Bedeutung. Sie stehen heute auch im Zentrum der Aufmerksamkeit einer wissenschafts-interessierten Öffentlichkeit. Das lässt sich beispielhaft für die Neutrinophysik an der enormen öffentlichen Resonanz ablesen, die 1998 durch die Hinweise einer japanischen Wissenschaftlergruppe auf eine von Null verschiedene Neutrinomasse entstand:

Ein Thema, das auch auf Seite eins der New York Times zu finden war. Noch intensiver als bei derartigen reinen Grundlagenforschungs-Fragestellungen ist das Interesse an Ergebnissen angewandter Forschung, wie sie insbesondere auch in der Atmosphärenphysik gewonnen werden - etwa Entstehen und Wirkung des Ozonlochs und der Einfluss des Luftverkehrs auf die Aerosolbildung. Einige grundlegende Vorgehensweisen, Ergebnisse aus und Gedanken zu den stellvertretend für andere, genauso wichtige Forschungsgebiete am Max Planck Institut gewählten Bereichen sollen hier dargestellt werden.

_____________________ Teilchenastrophysik _____________________

Die Erforschung des Kosmos hat eine lange Tradition am Heidelberger Max-Planck-Institut. In der Anfangszeit nach der Instititutsgründung durch Wolfgang Gentner im Jahre 1958 waren dies zunächst Arbeiten zur Entstehungsgeschichte und Datierung des Sonnensystems, gefolgt von Untersuchungen interplanetarer Materie und Kometen - beispielhaft ist die Beteiligung des Instituts an der erfolgreichen Giotto-Weltraummission der Europäischen Raumfahrtbehörde ESA zum Halleyschen Kometen im Jubiläumsjahr der Heidelberger Universität 1986, die erstmals deutliche Aufnahmen eines Kometenkerns und Aufschluss über seine Struktur und Zusammensetzung lieferte.

Heute und in absehbarer Zukunft ist bei der Erforschung des Universums für das Heidelberger Institut vor allem der Synergiebereich von Teilchenphysik und Astrophysik von Interesse. Während man in der Teilchenphysik die elementaren Bausteine der Materie und die zwischen ihnen wirkenden Kräfte studiert und dabei in der experimentellen Forschung moderne Teilchenbeschleuniger einsetzt, beschäftigt sich die Astrophysik auf den größten uns zugänglichen Skalen mit den Strukturen und physikalischen Prozessen im Universum.

In der Teilchenastrophysik versucht man, durch Messen und Analysieren von Teilchenstrahlung aus dem Universum etwas über die relevanten kosmischen Objekte und Strukturen, und die in ihnen ablaufenden physikalischen Vorgänge zu lernen - beispielsweise über die Funktionsweise der Sonne oder über die Quellen der hochenergetischen kosmischen Strahlung, die teilweise viele 100 000 Lichtjahre von uns entfernt sind.

Die Strahlungsenergien können dabei mit mehr als 10 Billionen Elektronenvolt wesentlich höher sein als die in den größten irdischen Teilchenbeschleunigern wie am Europäischen Forschungszentrum CERN in Genf oder am Deutschen Elektronensynchrotron DESY in Hamburg erreichbaren Werte, so dass man sich die Beobachtung ganz neuer Phänomene zum Ziel setzen kann, die es auf irdischen Energie- und Längenskalen nicht gibt - bis hin zu Effekten, die von der Vereinigung der Gravitation (Schwerkraft) mit den anderen drei fundamentalen Wechselwirkungen (starke, schwache und elektromagnetische Kraft) bei sehr hohen Energien herrühren.

Beim Studium des Kosmos benutzt man ganz verschiedene Teilchenarten. Zunächst sind das - wie in der klassischen Astronomie - Photonen aus dem für die Beobachtung zugänglichen Frequenzbereich des elektromagnetischen Spektrums. Dieser Bereich wurde im 20. Jahrhundert weit über das optische Fenster ausgedehnt: ins langwellige über das Infrarote zu Radiowellen, und ins kurzwellige über Röntgen- zu Gammastrahlung. Unterschiedlichste Messinstrumente sind für die verschiedenen Frequenzen erforderlich; nur für sichtbares Licht und Radiowellen ist die Erdatmosphäre dabei durchlässig. Astronomie in den verschiedenen Bereichen des elektromagnetischen Spektrums ist die Domaine des Heidelberger Max-Planck Instituts für Astronomie am Königstuhl.

In der Teilchenastrophysik sind jedoch auch andere Teilchenarten wichtig. Paradebeispiel sind die hochenergetischen Teilchen (meist Protonen, also Wasserstoff-Kerne, sowie Elektronen) der kosmischen Strahlung, die auf Atome des interstellaren Gases stoßen und dabei hochenergetische Gammaquanten erzeugen, die sich geradlinig - ohne Ablenkung durch interstellare Magnetfelder - ausbreiten. Der spätere österreichische Nobelpreisträger Victor Hess (er emigrierte nach der Besetzung Österreichs durch Deutschland nach Amerika) entdeckte die kosmische Strahlung zwischen1911 und 1913 in einer Serie von Ballonflügen bis in 5000 Meter Höhe. ((Dabei handelte es sich- wie man heute weiss - um Sekundärstrahlung, die von der primären kosmischen Strahlung in höheren Schichten der Erdatmosphäre ausgelöst wurde)).

Seit Ende der 1980er Jahre ist die Gammastronomie auch vom Erdboden aus möglich. Man nutzt dabei gezielt die Lufthülle der Erde als "Detektor": Ein (ungeladenes) Gammaquant erzeugt in der Atmosphäre eine Kaskade - einen sogenannten elektromagnetischen Schauer - von etwa 1000 geladenen Sekundärteilchen. Zunächst entsteht dabei im Feld eines Kerns ein (negatives) Elektron und ein (positives) Positron, die sich fast mit Vakuum-Lichtgeschwindigkeit durch die Luft bewegen. Da die Geschwindigkeit des Lichts in Luft durch die Brechung reduziert ist, bewegen sich die Sekundärteilchen schneller als das Licht und erzeugen deshalb - ähnlich dem Mach-Kegel eines mit Überschallgeschwindigkeit fliegenden Flugzeugs - einen sogenannten Cherenkov-Lichtkegel. Das von einem kosmischen Gammaquant sehr hoher Energie ausgelöste Licht kommt dabei aus einer mittleren Höhe von etwa 8 Kilometern.

Dieses Cherenkov-Licht wird bei genügend kleinen Wellenlängen - also vor allem im Sichtbaren und im nahen Infrarot - in der Atmosphäre nicht mehr absorbiert. Es leuchtet am Erdboden eine Kreisfläche von etwa 120 Metern Radius gleichmäßig aus (Bild 1) und kann dort mit sogenannten Cherenkov-Teleskopen registriert werden.

Bild 1: Cherenkov-Lichtkegel, den Sekundärteilchen der kosmischen Strahlung auslösen.



Quelle: MPI-HD / Heinz Völk

Seit den Erfolgen mit dem Whipple-Teleskop in den USA Mitte der 1990er Jahre hat dieses Forschungsgebiet vor allem in Europa einen enormen Aufschwung genommen. Mit ihm lassen sich insbesondere sogenannte nicht-thermische Prozesse, Materie- und Energieverteilungen im Kosmos studieren - dazu gehören die Teilchenbeschleunigung in Supernova-Überresten und gerichtete Ausströmungen (Jets) aus aktiven Kernen von fernen Galaxien.

Im Rahmen der internationalen HEGRA (High Energy Gamma Ray Astronomy)- Kollaboration hat sich das Max-Planck-Institut für Kernphysik bereits am weltweit ersten Stereoskopischen System abbildender atmosphärischer 3,2-Meter-Cherenkov-Teleskope auf dem Gelände des Observatoriums Roque de los Muchachos (ORM) auf der kanarischen Insel La Palma beteiligt. Da sich mit einem einzelnen Teleskop die Richtung eines einfallenden hochenergetischen kosmischen Gammaquants nicht bestimmen lässt, verwendet man ein System von mehreren (bei HEGRA fünf) Teleskopen in einem gegenseitigen Abstand von der Größe der Cherenkov-Lichtscheibe auf der Erdoberfläche, so dass der Lichtkreis aus verschiedenen Blickwinkeln vermessen werden kann. [ Dieses Verfahren erinnert an die Triangulation in der Landvermessung; es ermöglicht die Richtungsbestimmung mit einer Winkelauflösung von 3 bis 6 Bogenminuten - das ist zehnmal besser als mit den Instrumenten auf dem Gammasatelliten CGRO. Die durch hochenergetische Gammaquanten ausgelösten Schauer sind wesentlich schlanker als die durch Protonen und schwerere nackte Atomkerne ausgelösten, so dass sie sich im Prinzip unterscheiden lassen (das gilt leider nicht für Elektronen).

Das Cherenkov-Lichtsignal ist mit weniger als 5 Nanosekunden Dauer ausserordentlich kurz; es lässt sich nur mit Vakuum-Fotovervielfachern und einer anschliessenden sehr schnellen Elektronik registrieren. Die in der optischen Astronomie verwendeten Nachweisapparaturen (Charged-Coupled Devices, CCDs) wären hier viel zu langsam. Wichtige Weiterentwicklungen in der Festkörperelektronik werden in diesem Bereich sicherlich in Zukunft angestoßen werden, die auch für ganz andere Gebiete wie die medizinische Technik von erheblicher Bedeutung sein können.

Mit dem Hegra-Experiment liess sich beispielsweise die hochenergetische Gamma-Emission aus dem Krebsnebel im Sternbild Stier sehr genau messen. Der zentrale kompakte Pulsar im Überrest einer Supernova, die chinesische Astronomen im Jahre 1054 beobachtet hatten, sendet energiereiche nichtthermische Teilchen aus, die den Nebel und die diffuse optische Synchrotron-Strahlung in seinem Innern (Bild 2) erzeugen. Ein - vermutlich bei Streuung von Elektronen/Positronen an Photonen erzeugtes -hochenergetisches Gammaquant pro Minute konnte mit Hegra gemessen werden.

Bild 2: Der Krebsnebel- Überrest einer 1054 von chinesischen Astronomen beobachteten Supernova. Er sendet nicht nur sichtbares Licht, sondern auch hochenergetische Gamma-Strahlung aus, die sich mit Cherenkov-Teleskopen nachweisen lässt.



Quelle: ESO

Hauptziel dieser Forschung ist es, die Quellen der Teilchen und Photonen des nichtthermischen Universums zu identifizieren und zu untersuchen. In der Milchstraße sind das wahrscheinlich überwiegend Supernova-Überreste wie der Krebsnebel; im extragalaktischen Bereich wurden bereits einige Kerne aktiver Galaxien wie Markarian 421 und 501 als Quellen identifiziert. Markarian 501 hatte 1997 einen Strahlungsausbruch mit fast zehnmal größerem Gamma-Fluß als beim Krebsnebel, dessen Spektrum mit dem stereoskopischen Hegra-System täglich gemessen wurde. ]

Um noch tiefer in den extragalaktischen Raum blicken zu können und die Quellen mit einem empfindlicheren System als Hegra zu untersuchen, baut das Institut in Namibia ein neues Teleskopsystem H.E.S.S. (High Energy Stereoskopic System), dessen 4 erste Cherenkov-Teleskope in der Fotomontage (Bild 3) mit dem Gamsberg im Hintergrund dargestellt sind. Die Spiegelträger haben ca. 12 Meter Durchmesser; jeder Spiegel besteht aus 392 Segmenten (bei Hegra sind es nur 30) von 60 Zentimetern Durchmesser, die einzeln mit Elektromotoren justierbar sind. Die Kameras in 15 Metern Abstand vom Spiegel haben jeweils mehr 960 ultraschnelle Fotomultiplier. Die Auflösung der Apparatur wird zehnmal besser als bei Hegra sein.

Bild 3: Cherenkov-Teleskope zum Nachweis hochenergetischer kosmischer Gamma-Strahlung, die das MPI derzeit in Namibia baut (Fotomontage).



Quelle: MPI-HD

Die ganze Struktur ist etwa so hoch wie ein vierstöckiges Haus, kann aber dennoch auf jeden Punkt am Südhimmel ausgerichtet werden, insbesondere auch auf das galaktische Zentrum - und ist damit auch komplementär zu Hegra auf der Nordhalbkugel. Gegen Ende nächsten Jahres soll das Experiment mit vier Teleskopen seine Arbeit aufnehmen; es wird hochenergetische Gammstrahlen mit mehr als 50 Milliarden Elektronenvolt Energie registrieren - diese Schwelle ist zehnmal tiefer als bei Hegra. Im Endausbau sind bis zu 16 Teleskope geplant, die sicherlich in einer europäischen Kollaboration (Deutschland, Italien, Frankreich) zusammen mit Partnern aus Armenien (dort werden auch die Spiegel hergestellt), Namibia und Südafrika aufregende wissenschaftliche Erkenntnisse ermöglichen werden.

Bild 4: Montage der Halterung für ein H.E.S.S.-Spiegelsegment am MPI-HD.



Quelle: MPI-HD

_______________ Neutrinophysik ________________

Sowohl bei der Wechselwirkung der kosmischen Strahlung mit der Erdatmosphäre als auch bei den Kernfusionsvorgängen in der Sonne und anderen Sternen entstehen auch Neutrinos: schwach wechselwirkende Teilchen mit [ halbzahligem Spin und ] fast verschwindender Masse. Sie legen in Blei durchschnittlich eine Strecke von 100 Lichtjahren zurück, ehe sie mit einem Metallatom kollidieren - entsprechend schwierig ist ihr Nachweis auch dann, wenn der Teilchenfluß vergleichsweise hoch ist. Erst in den 1950er Jahren gelang der experimentelle Existenzbeweis der 1931 von Wolfgang Pauli postulierten Elektron-Neutrinos. Zehn Jahre danach fanden amerikanische Physiker mit dem Myon-Neutrino eine weitere Variante, und in diesem Jahr gelang der DONUT-Kollaboration am Fermilab nach dreijähriger Versuchsauswertung der direkte Nachweis von vier Tau-Neutrinos, die zur dritten uns heute bekannten Elementarteilchen-Familie zählen: Auch das letzte der zunächst theoretisch erwarteten Teilchen ist damit entdeckt.

Viele Jahre galten die Neutrinos als masselos - auf dieser Annahme beruht bis heute das Standardmodell der Teilchenphysik. Dann konnte 1970 eine amerikanische Gruppe um Raymond Davis mit einem großvolumigen unterirdischen Perchlorethylen-Tank erstmals von der Sonne ausgesandte Neutrinos nachweisen und fand gemessen am Standard-Sonnenmodell ein deutliches Neutrinodefizit, nur ein Viertel bis ein Drittel der erwarteten Intensität wurde registriert. War das Sonnenmodell falsch? Oder hatten die Neutrinos andere Eigenschaften als erwartet? Für Neutrinos mit endlicher Ruhemasse konnte eine Oszillation in andere, im Detektor nicht nachgewiesene Neutrinoarten erwartet und das Defizit auf diese Weise erklärt werden. Im Sonneninnern können diese Oszillationen oberhalb einer bestimmten Mindestenergie sogar resonant verstärkt werden. Die Frage nach der Neutrino-Ruhemasse entwickelte sich so zu einem der drängendsten Probleme experimenteller Teilchenphysik.

Das Heidelberger MPI hat mit der erfolgreichen GALLEX-Kollaboration um Till Kirsten im italienischen Gran Sasso-Tunnel ebenfalls die von der Sonne ausgesandten niederenergetischen Elektron-Neutrinos untersucht und konnte dabei erstmals deren dominanten Anteil - die energiearmen Neutrinos aus den Proton-Proton Reaktionen im Innern der Sonne - in mehreren Meßperioden zwischen 1991 und 1997 registrieren. Die charakteristische Nachweisreaktion für die Elektron-Neutrinos ist dabei die Umwandlung von Gallium-71 (der Detektor enthielt 30 Tonnen Gallium - die Hälfte der Weltjahresproduktion) in Germanium-71, das sich chemisch abtrennen und dann nachweisen lässt.

Die p-p-Neutrinos verhalten sich offenbar entsprechend dem Sonnenmodell, während sich das Defizit bei den Bor- und Beryllium-Neutrinos bestätigen liess. Eine endgültige Antwort auf die Frage nach der Neutrinomasse war noch nicht möglich, wenngleich die Hinweise auf Neutrino-Oszillationen schon recht deutlich waren und sich ein Paradigmenwechsel anbahnte: Viele Physiker waren jetzt überzeugt, dass die Neutrinos eine zwar kleine (unter einem hundertstel Elektronenvolt), aber von Null verschiedene Ruhemasse haben. Das Experiment wird seit 1998 unter italienischer Leitung mit MPI-Beteiligung als Gallium Neutrino Observatory (GNO) weitergeführt, um insbesondere nach zeitlichen Schwankungen des Neutrinoflusses zu suchen, und um die Neutrinoproduktionsrate auf 5 Prozent genau zu bestimmen. Dazu soll die im Detektor verwendete Gallium-Menge schrittweise auf 60 und dann auf 100 Tonnen erhöht werden.

Das bisher überzeugendste Anzeichen für Neutrino-Oszillationen kam dann1998 von der japanischen Superkamiokande-Kollaboration aus der Messung der etwa tausendfach energiereicheren atmosphärischen Neutrinos in einem 41 Meter hohen Tank mit 50 000 Tonnen Wasser 1000 Meter unter der Erde. Das Experiment ergab, dass das Verhältnis von atmosphärischen Myon- zu Elektron-Neutrinos von der Einfallsrichtung (gemessen als Zenitwinkel) abhängt - ein Resultat, das sich nach heutigem Kenntnisstand nur erklären lässt, wenn Myon-Neutrinos auf dem Weg durch die Erde teilweise in die mit dem verwendeten Cherenkov-Detektor nicht nachweisbare Tau-Variante umgewandelt werden: ein klarer Hinweis auf eine endliche Ruhemasse, wenngleich deren Absolutwert dadurch noch nicht bestimmt ist.

Mit diesem experimentellen Zwischen-Ergebnis steht die Neutrinophysik weltweit vor einem neuen Aufschwung, der insbesondere auch die vom Heidelberger Institut vorangetriebenen Messungen der Sonnenneutrinos betrifft. Dementsprechend beteiligt sich das Institut nicht nur an GNO, sondern auch am BOREXINO-Projekt, das gegenwärtig im Gran Sasso- Untergrundlabor unter italienischer Führung aufgebaut wird und 2001 mit den Messungen beginnen soll. Dieser Detektor enthält 300 Tonnen eines mit einem Leuchtstoff versetzten Lösungsmittels; die Neutrinoenergie wird in Lichtblitze umgewandelt und mit mehr als 2000 Fotozellen registriert. Die Apparatur ist auf die Beryllium-7- Neutrinos empfindlich, die einzeln gemessen werden sollen, so dass sich ihre bisher nur vermutete Unterdrückung durch Neutrino-Oszillationen direkt feststellen lässt. Der Neutrinophysik dienen auch Untersuchungen zum doppelten Betazerfall.

Bild 5: Blick in die Edelstahl-Kuppel des Borexino-Detektors im Gran-Sasso-Untergrundlaboratorium.



Quelle: MPI-HD

Ein weiteres wichtiges Vorhaben ist das Low Energy Neutrino Spectroscopy Experiment LENS. Die Neutrino-Physiker sehen es als "Traumexperiment" an, weil es sogar die niederenergetischen p-p-Neutrinos von der Sonne in Echtzeit - ohne chemische Abtrennung und späteren separaten Nachweis wie bei Gallex - registrieren kann, und eine genaue Messung des p-p-Neutrino-Spektrums unter 1 Million Elektronenvolt Energie verspricht. Es ist geplant, als Targetmaterial Ytterbium zu verwenden und die Neutrinos - wie bei Borexino - über Lichtblitze nachzuweisen, die in Fotozellen registriert werden. Noch ist offen, welches Institut das Projekt führen wird. Das MPI wird sich sicher beteiligen - das gilt auch für die in diesem Jahr von der Max-Planck-Gesellschaft eingerichtete Nachwuchsgruppe für Neutrinophysik in Heidelberg, an die sich Zukunftshoffnungen richten.

_____________ Speicherring _____________

Die Forschung des Heidelberger MPI findet jedoch keineswegs nur in anderen Ländern statt. Ein wesentliches Zentrum der wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Institutsgelände am Saupfercheckweg ist das nach dem Heidelberger Nobelpreisträger Walther Bothe benannte Laboratorium. Dazu gehört eine Experimentierhalle mit einem Tandem-Beschleuniger für geladene Atome (Ionen) samt neuem Hochstrom-Injektor (die Ionen werden auf bis zu 10 Prozent der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt) und einem angeschlossenen Testspeicherring TSR, in dem man nicht nur komplexe Übergänge in Atomen und Molekülen studiert, sondern beispielsweise auch die Gültigkeit der Speziellen Relativitätstheorie testet.

Bild 6: Beschleunigeranlage (schematisch) des Heidelberger MPI-K.



Quelle: MPI-HD

Seitdem der Speicherring vor mehr als 10 Jahren als weltweit erster "Kühlerring" für hochgeladene Ionen in Betrieb genommen wurde, konnte ein zunehmend größeres Arbeitsfeld erschlossen werden. So ist die Erzeugung "kalter", besonders energiescharfer und verdichteter Ionenstrahlen mit Hilfe von Laser- oder Elektronenstrahlen ein umfangreiches Forschungsgebiet, auf dem das MPI eine wichtige Rolle spielt. Insbesondere wurde ein neues Verfahren zur Laser-Kühlung der Ionenbewegung - zunächst für Beryllium-Ionen - in allen drei Raumrichtungen entwickelt, mit dem plasmaphysikalische Fragen bei extrem dichten Strahlen angegangen werden können. Auch eine laser-gekühlte Falle für neutrale Atome kann bei Experimenten am TSR verwendet werden.

Mit der sehr universell einsetzbaren Beschleunigeranlage lassen sich nicht nur atomare Ionen fast aller Elemente und Ladungszustände, sondern auch Molekülionen beschleunigen und in den TSR einschiessen. Dort werden sie mit acht großen Ablenkmagneten auf einer 55 Meter langen Umlaufbahn gehalten; das Vakuum in der Ringröhre entspricht dabei ungefähr Weltraumbedingungen, so dass manche Ionen bis zu einigen Stunden umlaufen; typisch sind jedoch eher Umlaufzeiten von Sekunden bis Minuten. Auch langlebige (metastabile) Anregungszustände von Ionen lassen sich so im Speicherring messen. (Dielektronische Rekombination bei metastabilem Lithium, Lebensdauer etwa 50 Sekunden).

Eine wesentliche Motivation für die Erzeugung und Untersuchung von Molekülen bei geringen Dichten kommt aus der Astrophysik. Obwohl interstellare Moleküle wie CH^+ oder CN schon vor mehr als 60 Jahren im Weltraum entdeckt wurden und man frühzeitig Anzeichen für wesentlich komplexere Moleküle fand, sind bis heute die Bildungsmechanismen und die physikalischen und chemischen Prozesse in interstellaren Wolken keineswegs völlig aufgeklärt. Bei den geringen Dichten des interstellaren Gases sind dies vor allem Zwei-Körper-Reaktionen - so zwischen Ionen und schon vorhandenen Molekülen, oder die Rekombination von ionisierten Molekülen mit niederenergetischen Elektronen. Solche Reaktionen lassen sich mit hoher Präzision im Labor untersuchen. Für das Studium der Rekombinationsreaktionen wird dabei der Molekülionen-Strahl mit einem Elektronenstrahl vereinigt.

Insbesondere Rekombinationsreaktionen in bestimmte molekulare Schwingungszustände - beispielsweise beim einfach positiv geladenen HD^+ Molekül, das dabei in zwei Fragmente auseinanderbricht - haben die Heidelberger Physiker um Dirk Schwalm und Andreas Wolf am TSR mit hoher Präzision untersucht. Diese Reaktionen erzeugen neutrale Fragmente mit vergleichsweise großer Bewegungsenergie und meist auch innerer Anregung; deshalb bewirkt etwa die Rekombination einfach positiv geladener Sauerstoff-Molekülionen ein grünes Leuchten in der Erdionosphäre. Mit Hilfe der sogenannten Coulomb-Explosion kann man ferner auch die räumliche Struktur von Molekülen untersuchen.

Bild 7: Testspeicherring TSR des Heidelberger MPI-K am Bierhelder Hof.



Quelle: MPI-HD

Besonders interessant ist die Möglichkeit, am TSR die Spezielle Relativitätstheorie sehr genau zu testen. Zwar sind - glücklicherweise - alle bisher bekannten Experimente in Übereinstimmung mit den Vorhersagen dieser fundamentalen Theorie, aber die Formulierung neuer Grenzen für mögliche Abweichungen ist dennoch von erheblicher Bedeutung. Die Wissenschaftler am TSR verwenden dazu Laserspektroskopie einfach positiv geladener Lithium-Ionen. Bei den im Speicher umlaufenden Ionen ( Beta=0,064 für 13,3 MeV Li^+) sind die Resonanzfrequenzen für angeregte Zustände im Vergleich zu ruhenden Ionen verschoben - in einer Weise, die sich aus der Speziellen Relativitätstheorie berechnen lässt. Das Experiment bestätigt die Theorie mit hoher Genauigkeit, die in Zukunft durch noch trickreichere Versuchsanordnungen weiter verbessert wird.

_____________________ Atmosphärenphysik _____________________

Auch auf dem Gebiet der Atmosphärenphysik werden viele Forschungsarbeiten im Institut selbst, im Wolfgang-Gentner-Labor, durchgeführt. Feldversuche haben jedoch einen ungefähr gleich hohen Stellenwert, eine ganze Reihe von Experimenten erfordern Ballon- und Flugzeugmessungen. Mittelpunkt der Arbeiten ist die Messung von Spurengasen, die einerseits die Ozonbildung beeinflussen und andererseits Vorläufer für die Bildung von Aerosolen sind - kleinen Schwebeteilchen in der Luft, wie sie etwa bei der Verbrennung fossiler Stoffe entstehen.

Wichtige Quellen für Vorläufergase der Aerosole sind die Nutzung fossiler Brennstoffe in Kraftwerken, im Auto- und im Luftverkehr. Hier konzentrieren sich die Arbeiten des MPI derzeit darauf, die Wirkung des Luftverkehrs auf die Aerosolbildung zu untersuchen (Frank Arnold et al.; Bild 8). Dazu gehören Messungen von Schwefelsäure und negativ geladenen Ionen großer Masse (Massenzahlen über 450) in Abgasfahnen von Düsenflugzeugen. Wegen der in Zukunft erwarteten Expansion des Luftverkehrs ist die frühzeitige Untersuchung der erwarteten Effekte für die Atmosphäre, das Klima und insbesondere die Ozonschicht von globaler Bedeutung.

Bild 8: In der Atmosphärenphysik wird unter anderen die Aerosolbildung durch Triebwerk-Emissionen gemessen. Das Bild zeigt ein Messflugzeug beim Verfolgungsflug.



Quelle: MPI-HD

Ganz allgemein ist der anthropogene (menschengemachte) Einfluss auf die Ozonverteilung in der hohen Atmosphäre und die Bildung von Aerosolen und Wolkenteilchen von vordringlichem Interesse. Angesichts der Bedeutung der Ozonschicht für die Absorption der solaren Ultraviolett-Strahlung mit Wellenlängen unter 290 Nanometern (sichtbares Licht: 400 bis 800 Nanometer) ist die Relevanz dieser Forschungen offensichtlich.

Das aus drei Sauerstoffatomen aufgebaute Ozonmolekül ist zwar ein mengenmäßig unbedeutender Anteil der Atmosphäre, aber dennoch eines ihrer wichtigsten Bestandteile - viele Wissenschaftler halten es für das wichtigste Spurengas. In der südpolaren Stratosphäre kommt es jedes Frühjahr durch chemische Prozesse zu großen Ozonverlusten; das Ozonloch dehnt sich dann über den ganzen antarktischen Kontinent aus. Auch über dem Nordpol gibt es jährlich anwachsende, chemisch bedingte Ozonverluste durch Chloraktivierungsprozesse an Polarwolkenteilchen.

Von besonderer Bedeutung ist deshalb die chemische Analyse der Polarwolkenteilchen, wie sie das MPI mit Ballonexperimenten in Stratosphärenwolken der Polarregion über Nordschweden durchführt. Die Messungen zeigen im Unterschied zu manchen Voraussagen vor allem wasserreiche Salpetersäure-Aerosole. Noch bis vor kurzer Zeit war die Zusammensetzung der Polarwolkenteilchen der unteren Stratosphäre gänzlich unbekannt.

Schließlich wird die Bildung, der Aufbau und die sogenannte Isotopenanomalie des Ozonmoleküls durch spektroskopische Messungen im Detail (Konrad Mauersberger et al.) untersucht. Die grundlegenden physikalischen Vorgänge, die eine Anreicherung bestimmter Sauerstoff-Isotope im Ozonmolekül bewirken, werden dabei aufgeklärt, und ihre Bedeutung für die Ozonverteilung in der Atmosphäre geklärt. Dabei ist die Gruppe am Heidelberger MPI derzeit die einzige, die eine vollständige Analyse der Ozonbildung mit allen beteiligten Sauerstoff-Isotopen (Massenzahlen 16, 17 und 18) durchführen kann. Angesichts der hohen Reaktivität des Ozons sind diese Messungen sehr schwierig.

Von den zahlreichen prinzipiell erzeugbaren "Ozon-Isotopen" mit Massenzahlen zwischen 48 und 54 spielen in der Atmosphäre neben dem dominanten Molekül mit der Massenzahl 48 (drei Sauerstoff-16 Atome) auch die mit Massenzahlen 49 und 50 eine Rolle. Laborstudien und Messungen in der Atmosphäre zeigen, dass die schweren Isotope etwa 10 Prozent häufiger vorkommen, als es einer statistischen Verteilung der Sauerstoffisotope im Ozonmolekül entspricht. Dies ist ein für die Atmosphärenphysik und -chemie äusserst wichtiger, aber bis heute nicht völlig verstandener Effekt, an dessen Erklärung am MPI und an anderen Instituten weltweit intensiv gearbeitet wird.

Einen virtuellen Rundgang durchs Institut gibt es im Internet (www.mpi-hd.mpg.de/ot2000); ich empfehle jedoch auch den realen Besuch im Institut (nach Vereinbarung).

Sept. 2000 G.W.

Bild 9: Echtheitstest bei Keramiken am MPI-HD. Sie stellen eine vereinfachte Form der Keramikdatierung dar. Durch diese Messungen lässt sich etwa belegen, ob die stilistischen Merkmale einer Keramikfigur mit dem Zeitpunkt ihrer letzten Erhitzung (i. allg. des Keramikbrandes) in Einklang zu bringen sind.



Quelle: MPI-HD

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Die Trends

* Die Teilchenastrophysik mit Schwerpunkt auf dem Nachweis hochenergetischer Gammstrahlung aus dem Kosmos wird auch in Zukunft expandieren. Das MPI baut dazu das H.E.S.S. System von zunächst vier Cherenkov-Teleskopen in Namibia. Astrophysik und Teilchenphysik wachsen allmählich zusammen. Wichtige technologische Impulse bis in die medizinische Physik gehen von den Arbeiten aus.

* Die Neutrinophysik erfährt nach den Hinweisen auf eine endliche Neutrinomasse einen weltweiten Aufschwung, an dem sich das MPI in den internationalen Kollaborationen GNO, Borexino und Lens zur Messung von Sonnenneutrinos und deren Oszillationen beteiligt.

* Komplexe Vielteilchensysteme in der Atom- und Molekülphysik werden am Testspeicherring TSR des MPI mit immer höherer Präzision untersucht. Genaue Tests fundamentaler Theorien - hier der Speziellen Relativitätstheorie - werden möglich.

* Die Atmosphärenphysik am MPI konzentriert sich auf angewandte Fragestellungen wie die Ozonbildung und die chemische Analyse von Aerosolen. Bei der Untersuchung der Isotopenanomalie des Ozons ist das Institut weltweit führend.

* Andere, hier nicht behandelte Forschungszweige haben am MPI sehr hohen Stellenwert. Dazu gehört insbesondere die theoretische Physik um Hans Weidenmüller.

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autor:

Georg Wolschin ist theoretischer Physiker und Wissenschafts-Journalist. Er arbeitet freiberuflich und lehrt an der Universität Heidelberg.

((Habilitation UHD 1982. Editor Spektrum d. Wissenschaft 1983-90. Programmleiter in Wiss.Verlagen 1990-93. Freiberuflich seit 1993. Buch- und Zeitschriftenautor, Dozent, Consultant. http://wolschin.uni-hd.de)).

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Siehe Web-Seiten des Max Planck Institutes für Details zu den beschriebenen Forschungsthemen.

Siehe auch Web-Seiten des MPI-HD zum Tag der offenen Tür 2000 für Details zu den Forschungsthemen des MPI-HD.

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